Tetiana Kovalova
23. Februar 2022, abends
Tetiana Kovalova - IT Spezialistin
IT-Spezialistin - Tetiana Kovalova
23. Februar 2022, abends
Ich telefoniere mit meiner Großmutter über die neuesten Nachrichten, dass bald ein ausgewachsener Krieg beginnen wird, obwohl ich, im Gegensatz zu meiner Großmutter, nicht weiß »was ein Krieg ist«. Aber ich versichere ihr, dass in Charkiw alles ruhig ist und im Allgemeinen ein neues Geschäft in der Nähe unseres Hauses gebaut wird. Meine Gedanken schweifen ab, welche Art von Krieg? Nach dem Gespräch erledige ich die üblichen Routinearbeiten, bereite mich auf den nächsten Arbeitstag vor und kommuniziere mit einem Freund – wir verabreden uns für das kommende Wochenende. Es ist Zeit zu schlafen.
24. Februar 2022, 5 Uhr morgens. Wir wachen vom Lärm auf. Wir sind müde, wir sind empört – jemand kam auf die Idee um 5 Uhr morgens ein Feuerwerk zu starten! Ich greife zum Telefon und erhalte eine Reihe von Nachrichten, dass überall in Charkiw Explosionen zu hören sind. In meinem Kopf dröhnt es: »Nein, nein, nein, das nicht!«. Die ersten Menschen, an die ich denke, sind meine Mutter und meine jüngere Schwester, die in der Region leben. Ich finde es schwierig zu entscheiden: so früh oder doch besser etwas später anzurufen, um sie nicht aufzuwecken und zu erschrecken. Ich versuche, mich zu beherrschen, ich beschließe den Anruf doch zu tätigen. Ich höre die Stimme meiner Mutter: »Hallo, wir sind gerade zitternd im dem Bett aufgewacht. Wir sitzen nun im Flur. 5 Raketen flogen zur Militäreinheit.« Sogar eine kleine Vorstadt in der Region Charkiw wird bombardiert, sagt meine Mutter. Erst jetzt verstehe ich - der KRIEG hat begonnen. Wir beschließen, gemeinsam in eine andere Wohnung, die meines Großvater um zuziehen – dort ist es im Allgemeinen ruhiger, das Haus ist mit dickeren Wänden erbaut worden. Schnell nehmen wir Unterlagen, Laptops und die Dinge mit, die in zwei Rucksäcke passen. Aus irgendeinem Grund war ich mir sicher, dass wir nach Hause zurückkehren und dann mitnehmen könnten, was wir brauchten (ich war nun, während ich dies schreibe, seit mehr als einem Monat nicht mehr in unserer Wohnung und ich weiß nicht, ob ich jemals wieder dort ankommen werde). Und so begann der längste Tag meines Lebens. Der Tag, an dem der Krieg in meinem Land, in meiner Heimatstadt, in meinem Haus ausbrach. Der Tag, an dem Russland die Ukraine überfiel.
Dieser Tag war lang und unbegreiflich, ich konnte nicht glauben, was passierte. Aber bis auf den Morgen erinnere ich mich an nichts genau mehr – das einzige ist, dass ich ständig die Nachrichten verfolgte, mit Bekannten, Freunden und Verwandten über ihren Verbleib sprach und mich dabei ertappte, dass dieser Tag endlos ist. Wie sich aber herausstellte, war der erste Kriegstag der ruhigste.
Wir verbrachten unter Beschuss fast zwei Wochen in Charkiw. Am zweiten Kriegstag fielen abends der Internetanschluss und der Strom aus. Am dritten – die Heizung. Wir schliefen auf dem Flur, weg von den Fenstern, auf dem Boden, angezogen und unter zwei Decken. Aufgrund des ständigen Beschusses konnten die Versorgungsunternehmen nicht in unsere Gegend gelangen, um zumindest etwas zu reparieren, auch konnten die Geschäfte nicht mit Lebensmittel versorgt werden, also verkauften sie, was übrig war. Wir standen 3 Tage lang im Laden an, »Raketen hagelten«, »Tornados« flogen über unsere Köpfe und Schüsse aus automatischen Gewehren waren um die Ecke zu hören. An einem dieser Tage fuhr sogar ein feindlicher Schützenpanzer mit dem faschistischen Buchstaben »Z« in unser Gebiet, er wurde aber sofort von unserem Militär eliminiert.
Während dieser ganzen Zeit haben wir gelernt, zu unterscheiden, was sie schießen, wer schießt, wo sie schießen und von wo. Und habe mich sogar daran gewöhnt. Aber jede Nacht hatte ich Angst einzuschlafen, die ganze Zeit waren meine Gedanken: »Was ist, wenn etwas passiert und ich müde und nicht konzentriert bin? Was ist, wenn wir überfordert sind? Werde ich überhaupt aufwachen? Was ist, wenn ich aufwache und herausfinde, dass mit meiner Familie oder meinen Freunden etwas passiert ist?«
Es stellte sich heraus, dass wir die ersten Tage relativ gut schlafen konnten. Als aber der Beschuss wirklich einmal nachließ, verfielen wir erschöpft für mehrere Stunden in einen Tiefschlaf.
Bis vor kurzem wollten wir Charkiw nicht verlassen, denn hier ist unser Zuhause, hier spielt sich unser ganzes Leben ab. Warum sollten wir das Haus verlassen? Wir dachten so, bis »die Rakete« in den Kindergarten in der Nähe unseres Hauses flog - buchstäblich unter den Fenstern. Im Haus gingen Fenster zu Bruch und Balkone stürzten ein.
Am nächsten Tag konnten wir wegen des Beschusses nicht abreisen. Ob dieser Gefahr änderte sich innerhalb eines Tages unsere Einstellung – wir sind einfach irgendwohin gegangen, in eine unbekannte Richtung, nur weg …
Jetzt sind wir an einem relativ ruhigen Ort. Ich kann immer noch nicht gut schlafen, ich öffne keine Fenster, weil mir Autogeräusche (und überhaupt alle lauten Geräusche, deren Quelle ich mit meinen Augen nicht finden kann) Angst machen, und ich weine oft. Seit mehr als einem Monat habe ich meine Familie nicht gesehen, ich kann wegen der gesprengten oder blockierten Straße und des Beschusses nicht zu ihnen kommen. Seit 3 Wochen habe ich keinen Kontakt zu meiner Patin, die in Izyum, zirka 100km südlich von Charkiw lebt, einer Stadt, die die russischen Invasoren stündlich in Trümmer verwandeln, vom Erdboden wischen, wo die Leichen der Toten auf den Straßen liegen. Alle Gebäude meiner ehemaligen Universität sind durch das ständige Bombardement beschädigt, ebenso mein ehemaliges Wohnheim. Fast alle Orte, die ich in Charkiw besucht habe, sind zerstört. Ich weiß nicht, in welchem Zustand die Wohnung ist, in der wir wohnten.
So viel Hass, Wut und Trauer hatte ich bis jetzt noch nie. Jeden Tag lese ich die Nachrichten über Izyum, Mariupol, Tschernigow, mehr als hundert getötete Kinder, vergewaltigte Frauen, getötete Zivilisten, Beschuss grüner Korridore und andere vom russischen Militär begangene Gräueltaten, und ich verstehe … dass das, was wir erlebt haben überhaupt NICHTS ist im Vergleich zu diesen unglaublichen Gräueltaten. Das macht es noch unheimlicher.
Aber gleichzeitig bin ich überwältigt von unglaublichem Stolz auf unser furchtloses Militär, das uns verzweifelt beschützt, ohne Übertreibung – das sind Helden. Unsere Freiwilligen tun das Unmögliche, retten Menschen und Tiere vor Hunger und Tod. Und natürlich bin ich stolz auf alle Ukrainer – starke, mutige, sympathische Menschen. Davon habe ich mich in diesen Tagen mehr als einmal überzeugt: Vom Nachbarn bis zu unseren Mitreisenden in der Bahn – alle halfen einander so gut sie konnten. Heute ist die Ukraine geeint wie nie zuvor, unser Volk kämpft erneut für seine Unabhängigkeit und Freiheit. Wir sind kein Teil Russlands und wollen es auch nicht sein, wir sind ein eigenständiges Land mit einer alten großen Geschichte, einer wunderbaren Kultur und einer harmonischen Sprache. Ich bin stolz auf unseren Staat, ich bin stolz, Ukrainer zu sein. Und ich möchte wirklich nach Hause und ich glaube von ganzem Herzen, dass ich bald dorthin zurückkehren werde. Ruhm der Ukraine!